Denk ich an Deutschland Berlin, 15. März 2019

„Was glauben wir eigentlich, wer wir sind?“

Die 10. Denk ich an Deutschland-Konferenz untersucht das deutsche Selbstbewusstsein in einem bewegten Europa

2019 jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Dieses historische Ereignis war die Voraussetzung dafür, dass die Bundesrepublik wieder ‚selbstständig‘ im Sinne einer vollständigen staatlichen Souveränität werden konnte. Erst mit diesem Schritt endete die Nachkriegsära, in der vor allem die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik in enger Abstimmung mit den Siegermächten und unter größter Zurückhaltung betrieben wurde.

Nun, eine Generation später, werden im In- und Ausland Stimmen lauter, die eine Neudefinition der Rolle Deutschlands in der Welt fordern. Die Frage, wie die Vertretung deutscher Interessen auf der internationalen Bühne gestaltet werden soll, ist eng mit der Frage nach der Selbstwahrnehmung und dem Selbstbewusstsein der Bundesrepublik verknüpft.

Die 10. Denk ich an Deutschland-Konferenz von Alfred Herrhausen Gesellschaft und Frankfurter Allgemeiner Zeitung, ging nun einen Tag lang mit etwa 400 Gästen, darunter politische Entscheidungsträger, Unternehmer, Journalisten und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, der Frage nach, wie sich die Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen und aktueller Herausforderungen verändert hat. Paul Achleitner, Vorsitzender des Kuratoriums der Alfred Herrhausen Gesellschaft, stellte in seiner Eröffnungsrede fest: „Wir leben in einer Zeit, in der unsere Wirtschaft, ja unsere Gesellschaft vor einem fundamentalen Umbruch steht. Wir müssen die Fragen beantworten, was von Deutschland erwartet wird und welche Rolle Deutschland spielen soll.“

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagte in ihrem Einführungsvortrag, sie sei „elektrisiert“ von dem Potenzial Deutschlands, die Welt zu verändern. Als ein „Land der Denker und Tüftler“ solle sich Deutschland beim Thema Digitalisierung stärker einbringen. Kramp-Karrenbauer forderte, Deutschland müsse seine langjährige außenpolitische Zurückhaltung aufgeben und anerkennen, dass es politisch „keine Trennung mehr zwischen Innen und Außen“ gebe. „Wir können uns entweder auf dem Sofa zurücklehnen und es hinnehmen, dass die Regeln, nach denen gespielt wird, nicht mehr unsere sind. Oder wir sind in der Lage, mehr als nur gut designte Industrieprodukte zu zeigen.“ Deutschland müsse sich die Frage stellen: „Wollen wir eine Rolle spielen oder nicht?“ Wenn die Antwort Ja laute, müssten Deutschland und Europa „wesentlich mehr Anstrengungen unternehmen“.

Die Denk ich an Deutschland-Konferenz fand dieses Jahr im früheren DDR-Staatsratsgebäude und heutigen Berliner Campus der Europäischen Schule für Management und Technologie statt – ein passender Rahmen für die Diskussionen über Deutschlands Entwicklung seit dem Mauerfall und seine Verantwortung gegenüber dem restlichen Europa. Hierfür richtete sich die Perspektive zunächst nach innen, denn Deutschlands Außen- und Europapolitik kann nicht ohne einen Blick auf innere Befindlichkeiten verstanden werden.

Die Diskussionen machten deutlich, dass die deutsche Wiedervereinigung bestenfalls als ein noch andauernder Prozess verstanden werden kann, der auch in Zukunft noch viel Einsatz erfordern wird. Jana Hensel, Autorin und Journalistin, sagte, dass ihrer Erfahrung nach viele Ostdeutsche die Wiedervereinigung nicht als Erfolgsgeschichte sehen. Begründet liege dies in andauernder sozialer Ungleichheit. Der Mangel an Arbeitsplätzen im Osten führe noch immer zu vermehrter Migration in den Westen: „Das ist nicht, was die Wiedervereinigung den Ostdeutschen versprach, und woran sie glaubten, was sie unterstützten.“ Ihre Mit-Diskutantin Naika Foroutan, Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, argumentierte, dass mehr für Migranten getan werden müsse, um einen deutschen Gemeinschaftssinn zu ermöglichen. „Wir brauchen eine strukturelle Integration und Anerkennung der Herausforderungen, denen Migranten sich stellen müssen, damit sie sich als Teil unseres kulturellen Narrativs erkennen“, sagte sie.

Der zweite thematische Abschnitt des Tages richtete die Perspektive nach außen und fragte nach „Deutschland in der EU – im Auge des Sturms?“ Deutschlands Mittellage in Europa, seine ökonomische Stärke und politisches Gewicht wecken große Erwartungen bei seinen europäischen Partnern und Verbündeten – aber nicht nur: Zuweilen wird es misstrauisch betrachtet. Die zahlreichen Krisen in der EU – vom Erstarken populistischer Kräfte hin zum Chaos um den Brexit – machen die Antwort auf die Frage, welche Erwartungen die europäischen Partner an Deutschland stellen, und welche Interessen Deutschland selbst in der EU hat, ebenso dringend wie komplex.

Auf dem Panel „Kann Deutschland die EU zusammenhalten?“ berichtete Ivan Krastev, Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia, von Befürchtungen in Osteuropa, Deutschland habe nicht verstanden, wie sehr sich die Welt verändert hat, und hielte zu stark am Status quo fest. „Wir haben keine Angst davor, dass Deutschland die Führung übernimmt, sondern dass es sie nicht übernimmt.“

Norbert Röttgen, Mitglied des Deutschen Bundestags und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, argumentierte, dass Deutschland gemeinsam mit anderen Mitgliedsstaaten, die seine Werte teilten, einen Konsens in der Außen- und Sicherheitspolitik herstellen solle. Er stellte fest, die Sicherheitsprobleme in Europa schürten die Angst der Bürger, was wiederum dem erstarkten Nationalismus in die Hände spiele. Deutschland könne es sich nicht leisten, auf die langsamsten Mitgliedsstaaten zu warten: „Europa ist gelähmt, und eine gelähmte EU ist eine schwache EU“, so Röttgen. Im Hinblick auf die baldigen Wahlen wies er darauf hin, wie wichtig die Betonung der Vorteile der Europäischen Union sei: „Wir müssen beweisen, dass Europa einen Mehrwert liefert.“

Die Botschafterin Frankreichs in Deutschland, Anne-Marie Descôtes, wies darauf hin, an welcher Stelle der Mehrwert besonders groß sein könnte: „In Europa geht es nicht nur um Verteidigung und Sicherheit, sondern auch um sozialen Schutz. Stärke zeigt sich nicht nur in Beziehung zu anderen, sondern auch darin, dass man in dem Raum, den man zusammen baut, nach gemeinsamen Regeln handelt.“

Michael Roth, Mitglied des Deutschen Bundestages und Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, betonte die Wichtigkeit des Umdenkens im Kontext eines zusammenwachsenden Europas: „Es gibt ein frappierendes Desinteresse an Mittel- und Osteueropa. Wir verharren in dem, was wir kennengelernt haben, und wo wir groß geworden sind. Es fehlt eine gewisse Neugier auf das, was sich dort entwickelt. Und das ist ungeheuer faszinierend.“

Der letzte Teil der Konferenz wendete den Blick in die Zukunft und fragte nach Deutschlands Interessen: Die Digitalisierung wird unsere Lebensweise und unsere Gesellschaften künftig noch stärker verändern, als sie es bisher schon tut. Dass die Weichen dieser Entwicklung technologisch in den Vereinigten Staaten und in China gestellt werden, wirft die Frage auf, was dies für geopolitische Implikationen mit sich bringt, und ob Europa und Deutschland ausreichend für die Ökonomie der Zukunft gewappnet sind. Deutschland kann nur gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Europäischen Union Souveränität über die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der technologischen Entwicklung zurückerlangen und somit auch das Selbstbewusstsein, um eine neue Ordnung mitzugestalten.

Laut ihrer Diskussionspartnerin Janina Mütze, Gründerin und Geschäftsführerin von Civey, muss Deutschland mehr tun, um junge Menschen auf das Leben in einer stärker digitalisierten Welt vorzubereiten. Dazu gehöre, dass Lehrer besser ausgestattet seien, um Kindern Technologie schon ab einem frühen Alter nahezubringen. „Digitale Geschäftsmodelle werden häufig als etwas Schlechtes oder Mysteriöses angesehen. Der Grund dafür ist ein Mangel an Information. Die meisten Menschen wissen einfach nicht, was digital sein bedeutet“, erklärte sie. Mützes Ansicht nach sollte Deutschland nicht nur digitale Unterrichtsmethoden einführen, sondern auch mehr in Innovation investieren. Und in Europa solle man keine Angst haben, auch ganz groß zu denken.

Julia Reda, Mitglied des Europäischen Parlaments (Piratenpartei) und stellvertretende Vorsitzende der Grünen/EFA Fraktion, wirbt für ein besseres europäisches Selbstbewusstsein: „Bei der Gesetzgebung fehlt der Mut, daran zu glauben, dass europäische IT-Unternehmen groß werden, dass sie konkurrieren können. Es fehlt die Vision zu glauben, dass es sich lohnt, ihnen gute Rahmenbedingungen zu schaffen.“ In der Diskussion bemerkte Ria Schröder, Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, die digitale Transformation sei nur im besten Interesse Europas, wenn wir sie dazu nutzten, Freiheit und Demokratie zu fördern.

Die Denk ich an Deutschland-Konferenz lädt ihre Teilnehmer dazu ein, über Deutschland- und Europa relevante Themen nachzudenken. Frühere Redner und Panelisten innerhalb dieser Konferenzreihe waren u. a. Francis Fukuyama, Joachim Gauck, Daniel Kehlmann, Angela Merkel, Peter Sloterdijk, Frans Timmermans und Ursula von der Leyen.

Eine Bildergalerie zur Veranstaltungen finden Sie hier: https://bit.ly/2TfXuFD

Zum Programm der 10. Denk ich an Deutschland-Konferenz am 15. März 2019 in der ESMT-Berlin:

PDF zum Download

Kontakt: Dr. Claudia Huber, Programmleiterin Europa

Mediathek

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Paul Achleitner, Vorsitzender des Kuratoriums der Alfred Herrhausen Gesellschaft, eröffnet die 10. Denk ich an Deutschland-Konferenz.

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Eröffnungsvortrag von Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Vorsitzende

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NaikaNaika Foroutan, Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung/p>

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Publikumsdiskussion: Wer glaubst du, sind wir?

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Norbert Röttgen, MdB und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, mit der französischen Botschafterin Anne-Marie Descôtes.

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Michael Roth, Mitglied des Deutschen Bundestages und Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt

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Janina Mütze, Gründerin und Geschäftsführerin von Civey: Deutschland muss mehr tun, um junge Menschen auf das Leben in einer stärker digitalisierten Welt vorzubereiten.

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Anna Herrhausen, Geschäftsführerin der Alfred Herrhausen Gesellschaft, schließt die Konferenz: Das offene Zugehen aufeinander in Dialog und Zusammenarbeit ist eine gute Übung dafür, Deutschlands Rolle in Europa neu zu definieren und auszuüben.